Im Interview: Umyma El Jelede, Medizinerin und FGM/C-Beraterin im Frauengesundheitszentrum FEM Süd in Wien und Eva Tiefengraber-Pöltl, von der FGM/C Koordinationsstelle des Roten Kreuzes Steiermark.
Mehr als 230 Millionen Frauen und Mädchen sind weltweit von Genitalverstümmelungen betroffen – und auch in Österreich ist die gefährliche, aber traditionsreiche Praxis längst angekommen. Umso wichtiger ist die Aufklärung und eine breite Diskussion, sagen zwei Expertinnen.
Das große Risiko der weiblichen Genitalverstümmelung
Mehr als 230 Millionen Frauen und Mädchen sind weltweit von Genitalverstümmelungen betroffen – und auch in Österreich ist die gefährliche, aber traditionsreiche Praxis längst angekommen. Umso wichtiger ist die Aufklärung und eine breite Diskussion, sagen zwei Expertinnen.
Zugegeben: Weibliche Genitalverstümmelung ist kein einfaches Thema. Es handelt von Gewalt an Frauen und Mädchen, von lebenslangen, unvorstellbaren Schmerzen, Gefahren und Entbehrungen. Es handelt aber auch von Jahrtausende alten Traditionen und Kulturen, in denen diese Eingriffe als aussichtsreicher Weg in eine sichere Zukunft gelten. Deshalb baten wir zwei Expertinnen zum Gespräch: Umyma El Jelede, Medizinerin im Frauengesundheitszentrum FEM Süd, und Eva Tiefengraber-Pöltl, Leiterin der FGM/C-Koordinationsstelle des Roten Kreuzes Steiermark. Die Message ist klar: „Wir müssen möglichst viel darüber reden, um die Menschen in Österreich aufzuklären“, sagt Eva Tiefengraber-Pöltl. „Und zwar nicht nur die Frauen. Die Männer müssen genauso aufgeklärt werden.“
Eingriff ohne Narkose
Die international gebräuchliche Abkürzung FGM bedeutet im Englischen „female genital mutilation“ (alternativ dazu gibt es noch die erweiterte Abkürzung FGM/C, wobei das „C“ für „circumsision“, also „Beschneidung“, steht). Die damit umschriebene Verstümmelung beschreibt die teilweise oder vollständige Beschneidung beziehungsweise Entfernung weiblicher Geschlechtsorgane ohne medizinische Notwendigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert vier Formen von weiblicher Genitalverstümmelung, wobei die vierte Gruppe auch kosmetische Eingriffe, etwa Piercings im Intimbereich, umfasst, die in der westlichen Gesellschaft mittlerweile – freiwillig – Verbreitung finden.
Was sich hinter den nüchternen medizinischen Fachbegriffen „Klitoridektomie“ (Typ 1), „Exzision“ (Typ 2) und „Infibulation“ (Typ 3) verbirgt, wird besser verständlich, wenn Umyma El Jelede die Eingriffe beschreibt, die oft schon an kleinen Kindern vorgenommen werden: „Bei Typ 1 werden die Klitorisvorhaut und/oder die Klitorisspitze entfernt. Bei Typ wird 2 werden zusätzlich die kleinen Vulvalippen abgeschnitten und bei Typ 3 auch noch die großen Vulvalippen – und dann wird das Mädchen oder die Frau zugenäht, also verschlossen.“ Und das normalerweise ohne Narkose, ohne steriles Werkzeug …
Kein Nutzen, nur Schaden
Die WHO findet klare Worte für die Auswirkungen des Eingriffs: „FGM/C hat keinen gesundheitlichen Nutzen und schadet Mädchen und Frauen in vielerlei Hinsicht. Bei der Genitalverstümmelung wird gesundes und weibliches Genitalgewebe entfernt und beschädigt, die natürlichen Körperfunktionen wie z.B. Wasserlassen von Mädchen und Frauen werden beeinträchtigt. Obwohl alle Formen von FGM/C mit einem erhöhten Risiko für gesundheitliche Komplikationen verbunden sind, ist das Risiko bei schwereren Formen von FGM/C größer.“
Zu den potenziellen Komplikationen zählen unmittelbar – neben starken Schmerzen und starken Blutungen – Infektionen (etwa Tetanus), Fieber, Wundheilungsstörungen, Schock oder laut WHO sogar der Tod. Die langfristigen Folgen sind mannigfaltig und umfassen Harnwegsinfektionen und andere Probleme beim Wasserlassen, Menstruationsbeschwerden (unter anderem durch Schwierigkeiten beim Abgang von Menstruationsblut), Vaginalprobleme wie Ausfluss, Juckreiz und bakterielle Vaginose), Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und ein erhöhtes Risiko von Komplikationen bei der Geburt, die häufiger zum Tod von Neugeborenen führen können.
Jahrtausende lange Tradition
Umyma El Jelede ist gebürtige Sudanesin; sie hat in Libyen Medizin studiert und ist 2004 – gemeinsam mit ihrer Mutter – aus Angst vor Repressalien nach Österreich geflohen. Ihr Vater hat beim sudanesischen Militär gearbeitet, weshalb sie mit ihrer Familie immer wieder längere Zeit in Ländern wie Ägypten, Äthiopien und Katar verbracht hat: „Aber nirgendwo ist über FGM/C gesprochen worden. Es war so, als würde das Thema nicht existieren.“Dabei hat die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung eine sehr lange Tradition: „Die Geschichte reicht mehrere tausend Jahre zurück. Der genaue Ursprung ist nicht bekannt, aber es gibt historische Hinweise, dass es diese Eingriffe bereits im alten Ägypten gegeben hat.“
Heute sind laut Schätzung der WHO mehr als 230 Millionen Mädchen und Frauen von FMG/C betroffen; in 30 Ländern in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten wird die Genitalverstümmelung großflächig praktiziert: „Untersuchungen ergeben, dass in Somalia und Ghana 98 Prozent aller Frauen betroffen sind. In Ägypten, Dschibuti und dem Sudan liegt die Rate ebenfalls bei mehr als 90 Prozent, in Äthiopien, Sierra Leone, dem Irak und im Jemen ist im Schnitt mehr als jede zweite Frau betroffen“, sagt Umyma El Jelede. Mit dem wachsenden Migrationsaufkommen breitet sich FGM/C zudem weltweit aus: „Migrantinnen bringen natürlich ihre Kultur, ihr Leben mit. Deshalb ist die Aufklärung bei uns gerade jetzt besonders wichtig. Das Risiko ist sehr groß, dass kommende Generationen auch in Österreich mit Genitalverstümmelungen konfrontiert werden.“
FGM in Österreich
Eine im September 2024 veröffentlichte Studie zum Thema „FGM/C in Österreich“ der Medizinischen Universität Wien unter Projektleitung von Dr. Elena Jirovsky-Platter (unter Mitwirkung von Umyma El Jelede) hat aktuelle Zahlen für Österreich ermittelt. Demnach sind hierzulande – basierend auf einer statistischen Hochrechnung – schätzungsweise an die 11.000 Menschen von FMG/C betroffen, weitere 1.700 bis 3.000 Mädchen – die Mehrzahl davon aus Ägypten – gelten als bedroht.
Dabei erfüllt weibliche Genitalverstümmelung in Österreich den Tatbestand der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen und kann (nach Paragraph 85 Strafgesetzbuch) mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren belegt werden; im Einzelfall der absichtlichen schweren Körperverletzung drohen sogar 15 Jahre Haft. Strafbar machen sich dabei aber nicht nur Beschneider:innen und medizinisches Fachpersonal, sondern im Fall von betroffenen Kindern auch deren Eltern – und das sogar, wenn der Eingriff nicht in Österreich stattfindet (sofern Täter:in oder die Betroffene Österreicher:in ist oder zumindest den gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat). Interessanter Zusatz: Im Gegensatz zu Intimpiercings kann zu FGM/C nicht strafbefreiend eingewilligt werden.
Interkulturelle Kompetenz
Eine weiterführende Erkenntnis der Studie lautet, dass „viele Gesundheitsfachkräfte in Österreich nicht ausreichend über weibliche Genitalverstümmelung und die entsprechenden Gesetze informiert sind. Empfohlen wird daher eine verbesserte Ausbildung des Gesundheitspersonals und ein Ausbau der ganzheitlichen Versorgung, einschließlich Dolmetscher- und psychologischer Unterstützung.“
Umyma El Jelede ist Medizinerin und arbeitet als gesundheitliche Beraterin und als Projektleiterin, sie bringt neben ihren fachlichen Fähigkeiten eine Eigenschaft mit, die immer größere Bedeutung gewinnen wird: interkulturelle Kompetenz. „Denn, was wir gerade bei einem so sensiblen Thema wie FGM/C brauchen, ist eine interkulturelle Medizin. Wir müssen die Menschen verstehen, mit denen wir sprechen – und sie müssen verstehen, wovon wir sprechen“, sagt Umyma El Jelede. Was sie aber auf jeden Fall mitbringt, ist – neben ihren fachlichen Fähigkeiten – eine Eigenschaft, die immer größere Bedeutung gewinnen wird: interkulturelle Kompetenz. „Denn was wir gerade bei einem so sensiblen Thema wie FGM/C brauchen, ist eine interkulturelle Medizin. Wir müssen die Menschen verstehen, mit denen wir sprechen – und sie müssen verstehen, wovon wir sprechen“, sagt Umyma El Jelede.
Verbesserte Ausbildung ist notwendig
Um medizinisches Personal und andere Menschen, die mit FGM/C-Betroffenen in Kontakt kommen, zu informieren und zu sensibilisieren, veranstaltet die FGM/C Koordinationsstelle österreichweit immer wieder gezielt Berufsgruppenschulungen: „Wir haben solche Veranstaltungen zum Beispiel schon mit Hebammen und Sozialbegleiter:innen durchgeführt, aber auch intern beim Roten Kreuz“, so Eva Tiefengraber-Pöltl. Da das Bewusstsein in Österreich weiterhin wachsen soll, stehen in naher Zukunft weitere Termine auf dem Programm: „Eine ganz wichtige Gruppe für uns sind die Kinderärztinnen und Kinderärzte. Gerade im Sinne der Prävention spielen sie eine große Rolle bei der Aufklärung von Eltern.“
Besonders das Personal auf den Gynäkologie-Abteilungen und -Ambulanzen müsse auf potenzielle Risiken aufmerksam gemacht werden: „Je mehr über dieses Thema aufgeklärt wird, desto reibungsloser kann eine Entbindung funktionieren. Da geht es einerseits darum, die betroffene Frau aufzuklären. Aber auch Ärztinnen und Ärzte und alle Mitarbeiter:innen sollten wissen, welche Komplikationen auftreten können. Ich glaube, es ist gerade auf den Gynäkologie-Abteilungen und Ambulanzen das Schlimmste für alle Beteiligten, wenn sie vollkommen unvorbereitet eine hochschwangere betroffene Frau mehr oder weniger schnell behandeln müssen.“
Komplexe Ursachen
Die besondere Herausforderung im weltweiten Kampf gegen alle Formen weiblicher Genitalverstümmelung liegt darin, dass sie in unterschiedlichen Kulturen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben und deshalb ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. „In vielen Ländern in Afrika und in Asien wird FGM nicht als Gefahr gesehen; selbst die betroffenen Frauen sprechen oder klagen nicht darüber. Aber nicht einmal, weil es Tabuthema wäre, sondern weil es einfach Teil unseres normalen Alltags ist“, sagt Umyma El Jelede. Sie selbst hat während ihres Studiums mehrere Wochen in einer Gynäkologieklinik im Sudan gearbeitet: „Ich war sogar dabei, als betroffene Frauen Kinder entbunden haben. Aber medizinische Probleme sind niemals zur Sprache gekommen, weil sie einfach zu unserer Kultur gehören.“
Die Gründe dafür sind komplex, sagt Umyma El Jelede. FGM/C hat einerseits – wie auch die Beschneidung von Männern – etwas mit „ritueller Reinheit“ zu tun: „Das liegt durchaus an mangelnder Aufklärung und fehlendem Wissen über den weiblichen Körper. Die Menschen haben zu wenig Ahnung von Frauengesundheit, von Fruchtbarkeitszyklen, von der Menstruation. Dieser Ausfluss aus der Vagina wird einfach als etwas Schmutziges gesehen.“
Sichere Zukunft vs. Menschenrechtsverletzung
Ein anderer Punkt, der laut Umyma El Jelede in westlichen Ländern als „Kontrolle über die weibliche Sexualität“ bezeichnet wird, betrifft in vielen afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern nicht zuletzt wirtschaftliche Überlegungen: „Jeder Vater, aber auch jede Mutter will, dass ihre Tochter als Jungfrau in die Ehe geht – und das soll garantiert werden, indem die Mädchen beschnitten werden.“ Und das führt dazu, dass eine Praxis, die von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Menschenrechtsverletzung deklariert wird, von vielen Betroffenen de facto nicht nur akzeptiert, sondern sogar bewusst gewählt wird: „Für Frauen bedeutet eine Beschneidung bessere Chancen, einen guten Ehemann zu finden – und damit die Aussicht auf eine bessere, sichere Zukunft.“
Aus westlicher Sicht ist so eine Entscheidung natürlich schwer nachvollziehbar, weiß Eva Tiefengraber-Pöltl: „Umso wichtiger ist aber, in den einzelnen Communitys in Österreich die Aufklärungsarbeit voranzutreiben. Wir sehen, dass vielen Frauen, die zu uns kommen, die Zusammenhänge zwischen FGM/C und ihren medizinischen Problemen gar nicht bewusst sind. Erst wenn sie erkennen, welche Komplikationen diese Verstümmelungen auslösen können, beginnen sie sich gegen diese Eingriffe auszusprechen.“
Rückoperationen sind möglich
In einigen FGM-Ambulanzen – einen Überblick und viele weitere Informationen gibt es auf der Homepage https://fgm-koordinationsstelle.at/ – sind gewisse Rückoperationen (vor allem die Wiederöffnung vernähter Geschlechtsteile) auch in Österreich mittlerweile einfach möglich. Um betroffene Frauen aber überhaupt zu diesem Schritt bewegen zu können, sagt Eva Tiefengraber-Pöltl, ist ein niederschwelliges Angebot an Beratungsmöglichkeiten notwendig.
Entscheidend sei dabei immer ein „sprachsensibler Umgang“ mit den Betroffenen, sagt Umyma El Jelede: „Gerade bei Migrantinnen ist es ganz wichtig, die kulturellen Hintergründe zu verstehen. Damit sich eine Frau im Gespräch öffnet, muss sie sich verstanden fühlen. Beim Thema FGM/C sprechen wir von einem höchst privaten Lebensbereich. Ich muss also sowohl sprachsensibel als auch kultursensibel auf sie eingehen und spreche deshalb nicht von Verstümmelung oder der Gewalt, die ihr angetan worden ist. Aber wenn ich Begriffe aus ihrer Kultur verwende, zum Beispiel das Wort „Reinheit“, das im Zusammenhang mit den Beschneidungen immer wieder verwendet wird, dann erreiche ich sie viel leichter.“
Gespräche mit der ganzen Familie
Der Kampf gegen FMG/C, sagt Umyma El Jelede, wird uns in Zukunft verstärkt und vor allem noch lange Zeit fordern: „Wir müssen damit rechnen, dass uns das Thema auch in Österreich noch mindestens zwei, drei Generationen lang beschäftigen wird. Das Ziel ist eindeutig, weibliche Genitalverstümmelungen zu verhindern.“ Umso wichtiger sind umfangreiche Aufklärungsmaßnahmen und viele, viele Gespräche – im Optimalfall in der jeweiligen Muttersprache. Dabei sollte immer ein möglichst großer Familienkreis angesprochen werden: „Wir müssen die Frauen und die Männer erreichen. Wir müssen die Eltern erreichen, die Brüder, die Schwestern“, sagt Umyma El Jelede. „Und wir dürfen die Großmütter nicht vergessen, sie haben in unserer Gesellschaft großen Einfluss auf die ganze Familie.“